Boxenstopp auf Augenhöhe

Leben mit Handicap

 

Ein gelernter KfZ- und Zweiradmechaniker, selbst Rollstuhlfahrer, kümmert sich mit Leidenschaft um die Mobilität von Menschen mit Handicap. Das SANITÄTSHAUS AKTUELL MAGAZIN hat Udo Müller in seinem reha team Aartal, einem ganz besonderen Sanitätshaus, besucht.

Autor: Michi Jo Standl

Udo Müller, Inhaber des reha teams Aartal
(© reha team Aartal)

Wenn man mit dem 47-jährigen spricht, hat man das Gefühl, man unterhält sich nicht über Hilfsmittel, sondern über Autos und Motorräder. Kein Wunder, denn bis zu seinem Motorradunfall 1989 war der gelernte KFZ- und Motorradmechaniker begeisterter Biker. Alles was rollt, hat ihn immer schon fasziniert. Seit dem tragischen Unglück ist er querschnittsgelähmt und fährt selbst im Rollstuhl.

Hilfsmittel-Nahversorger

Erst sein eigenes Schicksal hat Udo Müller auf die Idee gebracht, sich im rheinland-pfälzisch-hessischen Grenzgebiet um die Versorgung mit Mobilitätsmitteln und deren Reparatur zu kümmern. Zuerst im Sanitätshaus eines Bekannten, inzwischen mit seiner eigenen Rehatechnik-Firma.

© reha team Aartal

„Ich hatte damals festgestellt, dass die Versorgung bei uns in der Region sehr dünn ist“, sagt Müller, der das Unternehmen reha team Aartal in Gückingen betreibt. Seine Hilfsmittel, die er nach dem Unfall brauchte, habe er aus dem 80 Kilometer entfernten Frankfurt bekommen. „Die Reparatur dauerte ebenfalls entsprechend lange“, erinnert er sich. „Auch aus Gesprächen mit Bekannten in ähnlichen Situationen hatte sich damals ergeben, dass alle in der Region dieses Problem hatten“, erzählt Müller. Da er aus eigener Erfahrung weiß, wie es sich für einen Rollstuhlfahrer anfühlt, wenn er eine Woche lang nicht mobil ist und gar nichts machen kann, ging er noch einen Schritt weiter. Seine Außendienstmitarbeiter reparieren Rollstühle, ob klassisch oder elektrisch, und andere Hilfsmittel direkt vor Ort bei den Kunden. Das Team ist mit voll ausgestatteten Werkstattbussen unterwegs. „Bei uns kann jeder im Außendienst Reifen, einen Schlauch oder die Batterie eines elektrischen Rollstuhls wechseln“, so Müller. Dabei hat er nicht einmal eine Ausbildung zum Reha-Techniker. Er habe sich alles selbst angeeignet. Was ihn treibt, ist der Wunsch nach größtmöglicher Mobilität.

Blick auf die Realität

Gabriele Wagner, Medizinproduktberaterin
(© reha team Aartal) im reha team Aartal

Gabriele Wagner führt den Erfolg von Udo Müllers reha team nicht nur auf die Idee mit der Vor-Ort-Versorgung zurück. „Außer dem Chef sind auch zwei Mitarbeiter Rollstuhlfahrer“, erzählt die kaufmännische Leiterin und Medizinproduktberaterin. „Wenn jemand einem gegenüber sitze, ist das etwas anderes, als wenn der Berater steht – nicht nur wegen dem Erfahrungsaustausch, sondern auch psychologisch.“ Das schaffe Vertrauen. Wagner arbeitet seit zehn Jahren im Unternehmen und ist damals erst mit dem Themen Handicap und Hilfsmittel in Berührung gekommen.

Für wen ein bestimmtes Hilfsmittel das richtige ist, hänge im Prinzip von der Art der Behinderung ab, erklärt Wagner. Sie stellt aber fest, dass die Wahl des Produktes altersabhängig ist. „Die Kunden sind eitler geworden“, sagt sie nicht ganz ernst gemeint. „Gehhilfen werden eher von älteren Menschen in Anspruch genommen, wobei sich da die Altersgrenze auch nach oben geschoben hat.“, sagt sie. „Jüngere bevorzugen eher einen Rollstuhl, wenn sie die Wahl haben.“

Den Blick auf die reale Mobilität von Menschen mit Handicap hat sie in Gesprächen mit Kunden und den drei Rollstuhlfahrern im reha team gelernt. Die Versorgung mit technisch immer mehr ausgefeilten Hilfsmitteln ist das eine, echte Mobilität im öffentlichen Raum das andere. Dabei macht sie sich auch privat Gedanken über Barrierefreiheit. „Wenn ich als Fußgängerin durch die
Stadt gehe, fällt mir auf, dass Maßnahmen für die Barrierefreiheit oft gut gedacht, aber schlecht gemacht sind“, weiß die gelernte Handelsfachwirtin „Zum Beispiel abgesenkte Bürgersteige, vor denen geparkt werden darf, bringen für Rollstuhlfahrer überhaupt nichts. Ich denke, die Öffentlichkeit ist auf einem guten Weg zur ganzheitlichen Barrierefreiheit, es gibt aber noch viel zu tun.“, bringt es Wagner auf den Punkt.

Mehr über das Sanitätshaus mit dem Lächeln erfahren Sie auf der Seite: www.reha-team-aartal.de

 

„Barrierefreiheit darf es nicht nur in Innenstädten geben“

München ist laut einer Umfrage der Aktion Mensch die Stadt Deutschlands mit der größten Barrierefreiheit. Das SANITÄTSHAUS AKTUELL MAGAZIN hat den ehrenamtlichen Behindertenbeauftragten der bayerischen Landeshauptstadt, Oswald Utz, gefragt, was Barrierefreiheit eigentlich ausmacht.

SAM: Was macht eine Stadt barrierefrei?

© hep-mobil/Alexendra Nolden

Oswald Utz: Mehr als Rampen für Rollstuhlfahrer. Wir haben ein Leitsystem, mit dem blinde Menschen selbständig in den Bus oder die Straßenbahn einsteigen können und gehörlose Menschen optisch etwa auf Verspätungen hingewiesen werden. Wichtig ist, dass das Netz bis in die Peripherie abgedeckt ist.

SAM: Barrierefreiheit von öffentlichen Gebäuden in privater Hand ist nicht gesetzlich geregelt. Wie gehen sie damit um?

Oswald Utz: Bei Kinos zum Beispiel habe ich keinerlei Handhabe. Der Bund hat beim Behindertengleichstellungsgesetz die Privatwirtschaft wieder außen vorgelassen. Was Arztpraxen betrifft, können wir von der Kassenärztlichen Vereinigung nicht verlangen, dass sie nur barrierefreie Praxen zulässt. Das Hauptproblem sind Bestandsgebäude in denen sich Ärzte niederlassen. Mich ärgert, dass viele Ärzte auf einen Umbau verzichten, weil sie vermeintlich ohnehin schon genug Patienten haben.

SAM: Gibt es einen Anreiz für die Privatwirtschaft?

Oswald Utz: Die Stadt München gewährt Förderungen für barrierefreien Bau. Aber nur unter strengsten Auflagen.

SAM: Warum scheint das Thema Inklusion so sperrig?

Oswald Utz: Im Gegensatz zu anderen Menschenrechtsbewegungen, wie beispielsweise der Frauenbewegung, fallen behinderte Menschen weniger auf. Sie bewegen sich oft in Sondereinrichtungen und viele haben zu wenig Selbstbewusstsein, um für ihre Anliegen zu kämpfen. Deren Leben ist oft schwer genug. Da gibt es noch viel zu tun.

SAM: Herzlichen Dank für das Gespräch!

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