Achtsamkeit: Eine Pause fürs Leben

Wie wir mit Achtsamkeit usnerem Inneren auf die Spur kommen

 

Autorin: Jana Pajonk

„Was hinter uns liegt und was vor uns liegt, sind winzige Angelegenheiten, verglichen mit dem, was in uns liegt“, erklärte Ralph Waldo Emerson im 19. Jahrhundert. Der US-Amerikaner hatte Gelegenheit für diese Erkenntnis, denn er war Philosoph und Schriftsteller und verbrachte viel Zeit damit, die Dinge aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten. Wir „normalen“ Menschen hingegen sind von früh bis spät mit anderen Dingen beschäftigt. Zeit zur Innenschau und zu philosophischen Gedanken bleibt da wenig. Und spätestens seit dem digitalen Zeitalter sind auch die letzten Lücken in unserem Tag mit Angeboten der Unterhaltung, Zerstreuung und Ablenkung geflutet.

Um dem angeblich so Großartigen, was in uns liegt, auf die Spur zu kommen, braucht es eine ganz bewusste Entscheidung für Zeit mit sich selbst und gegen etwas anderes. Das gelingt uns manchmal im Urlaub. Vielleicht gönnen wir uns auch hin und wieder eine Woche in einem Kloster, in der Natur oder einem der vielen Seminarhäuser, die es dafür inzwischen gibt. Doch wie schnell lassen wir uns danach vom Alltag wieder verschlingen, kehren zurück in den Funktionsmodus und leben ein Leben gesteuert von dem Autopiloten in uns, der genau weiß, wie wir „funktionieren“. Wir fühlen uns fremdbestimmt. Eigentlich würden wir ja gern mehr und vielleicht anders leben. Aber wie soll das gehen?

Achtsamkeit ist der Schlüssel zum Tor ins Innere
© Robert Niedring

„Mit der bewussten Wahrnehmung des Augenblicks“, weiß Martin Garreis. Der 43-Jährige ist Achtsamkeitstrainer bei München. „Achtsamkeit bedeutet für mich, das, was gerade in mir und um mich herum los ist, wahrzunehmen und es mit einer friedlichen Haltung zu akzeptieren. Dann habe ich nämlich die Möglichkeit, bewusst zu entscheiden, wie ich mit den Dingen umgehe, wie ich agiere. Da kann ich auch wütend sein. Aber ob ich dann mein Gegenüber in einer unbewussten Reaktion anschreie oder ihm mitteile, dass ich gerade wütend bin, macht einen großen Unterschied. Nur wenn es einen Raum gibt zwischen einem Reiz und meiner Reaktion drauf, habe ich mein Leben selbst und bewusst in der Hand. Und diesen Raum kann sich jeder erobern und ihn Stück für Stück weiten: mit dem Üben von Achtsamkeit.“ Martin Garreis selbst hat es mithilfe der Achtsamkeit nicht nur geschafft, eine schwere Lebenskrise zu überwinden, sondern auch seinen Beruf als Softwareentwickler Stück für Stück gehen zu lassen. Heute lebt er als MBSR-Lehrer und Heilpraktiker für Psychotherapie seine Berufung.

Eine Methode, die wirklich funktioniert

MBSR (engl: Mindfulness-Based Stress Reduction) ist eine wissenschaftlich fundierte Methode, Achtsamkeit zu erlernen und sie vor allem nachhaltig im Leben zu verankern. Sie wurde in den 1970er-Jahren von Dr. Jon Kabat-Zinn an der Universitätsklinik in Worcester, Massachusetts (USA) entwickelt. Das Besondere daran ist, dass es sich um ein 8-wöchiges Programm handelt, das in der Regel in einer Gruppe stattfindet. Acht Wochen lang trifft sich die Gruppe für jeweils zweieinhalb Stunden und erlernt gemeinsam verschiedene Übungen der Achtsamkeit wie Bodyscans, Körperübungen oder Sitzmeditationen. Außerdem gibt es einen gemeinsamen „Tag der Achtsamkeit“, der von den Lehrenden mit Übungen und Raum für Austausch individuell gestaltet wird. Mithilfe angeleiteter Meditationen sind die Teilnehmenden angehalten, jeden Tag zu Hause rund eine Stunde zu üben. „Oft höre ich gerade von viel gestressten Menschen, diese Zeit hätten sie nicht“, erzählt Martin Garreis. „Doch ich ermutige sie dann, es acht Wochen lang mal zu versuchen, danach könnten sie es ja dann wieder sein lassen“, schmunzelt der Achtsamkeitslehrer. Denn das menschliche Gehirn braucht 21 bis 30 Tage, um neue Verhaltensweisen als Routinen abzuspeichern. Nach dieser Zeit ist der innere Schweinehund verschwunden oder zumindest wesentlich leiser, der uns so oft daran hindert, etwas Gutes für uns zu tun. Und dann ist es viel leichter.

Genauso wirksam wie Medikamente
© Robert Niedring

– nur ohne Nebenwirkungen Studien haben gezeigt, dass sich mit diesem Acht-Wochen-Programm die Hirnstruktur tatsächlich verändert. Die für Angst (Amygdala) und das Wohlbefinden (Hypothalamus) zuständigen Hirnregionen sind dann kleiner (Angst) bzw. größer (Wohlbefinden). Kürzlich hat eine Studie der Georgetown-Universität in Washington, D.C. gezeigt, dass Achtsamkeit bzw. MBSR genauso wirksam bei Angststörungen ist wie Antidepressiva. Nur ohne die Nebenwirkungen der Medikamente. Die ZEIT hat darüber berichtet. Achtsamkeit ist in der Psychotherapie angekommen. „Natürlich sollten sich Menschen, die schwere Ängste, Depression und andere psychische Störungen haben, immer zuerst an eine Psychotherapeutin oder einen Psychotherapeuten wenden“, mahnt Martin Garreis. Achtsamkeitstraining kann eine solche Therapie unterstützen. Doch es nutzt auch allen anderen.

Wie möchte ich leben?

„Vor allem möchte ich die einladen, die der Meinung sind, sie bräuchten so etwas nicht“, sagt der MBSR-Lehrer. „Achtsamkeit hilft nämlich nicht nur, Stress zu regulieren. Es geht darum: Wer bin ich eigentlich? Was ist mein Weg hier? Wo führt der mich hin? Womit möchte ich meine Zeit auf dieser Welt verbringen? Was ist mir wichtig? Die bewusste Wahrnehmung unseres Inneren führt uns unsere eigenen Strategien vor Augen und gibt uns die Möglichkeit, zu entscheiden, wer und wie wir sein wollen.“ Hier hört Fremdbestimmung auf und fängt Selbstbestimmung an. Sind Sie nicht auch gespannt, was in Ihnen steckt?

Martin Garreis ist Heilpraktiker für Psychotherapie, zertifizierter MBSRLehrer und arbeitet mit der Akzeptanzund Commitmenttherapie (ACT). Er gibt MBSR-Kurse on- und offline und bietet individuelles Achtsamkeitstraining, Coaching und Psychotherapie an. Weitere Informationen unter: www.im-wesentlichen.de

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