„Lieber Arm ab als arm dran“

Höchstleistungen ohne Arme und Hände: Rainer Schmidt im Interview

 

Rainer Schmidt ist Pfarrer, Kabarettist, Buchautor, Tenor sowie mehrfacher paralympischer Goldmedaillengewinner und ganz nebenbei hat er auch eine Behinderung. Mit dem SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin sprach der Tausendsassa über sein vielseitiges Leben.

Autor: Christian Sujata

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Paralympics-Sieger im Tischtennis, Kabarettist und erfolgreicher Buchautor. Als was sehen Sie sich selbst zuerst?

Schmidt: Als Pfarrer antworte ich: Ich bin zuerst Mensch. Als Kabarettist antworte ich: Ich bin zuerst ein fantastischer Liebhaber, denn Humor macht sexy. Als Sportler antworte ich: Hä?

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Über Ihre Geburt 1965 in Gaderoth sollte man zwei Dinge wissen: Erstens handelte es sich um eine Hausgeburt, zweitens kamen Sie ohne Unterarme und Hände sowie mit einem verkürzten rechten Bein zur Welt. Wie sind Ihre Eltern mit dieser Überraschung (es gab damals ja noch keinerlei „Vorschauen“ per Ultraschall) umgegangen?

© Johannes Hahn

Schmidt: Meine Eltern waren in der Tat mehr als überrascht, sie waren geschockt. Niemand hat mit meiner Behinderung gerechnet. Aber nun war ich da und alles Jammern half nichts. Also wurden die Arme hochgekrempelt und sie machten das Beste aus der Situation. Reaktionen gab es natürlich nicht nur von meinen Eltern, sondern von vielen Menschen im Dorf. Mein Erscheinen löste Mitleid aus, eine Spendensammlung, Hilfsbereitschaft und vermutlich noch etliches andere.

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Wusste man damals schon, was die medizinische Ursache dafür war?

Schmidt: Nein, die Frage nach der Ursache glich einem Blick in die Glaskugel: Abschnürung durch Nabelschnur, amniotisches Bandsyndrom, Gendefekt usw. Erst als meine Schwester selbst Mutter werden wollte, diagnostizierte die Uniklinik Köln das Femur-Fibula-Ulna-Syndrom.

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Vermutlich mussten Sie in Ihrer Kindheit und Jugend die eine oder andere Einschränkung hinnehmen. Wie sind Sie speziell in dieser Zeit, in der Kinder andere gerne als „Außenseiter“ abstempeln, damit umgegangen?

Schmidt: In der Tat konnte ich manches nicht oder nicht so gut wie meine gleichaltrigen Spielkameraden. Außenseiter war ich aber nie. Meistens hat man mir geholfen, wenn zum Beispiel ein Stacheldrahtzaun im Weg war oder ich alleine nicht über den Bach springen konnte. Manchmal wurde sogar das Spiel angepasst, damit ich mitmachen konnte. Beim Völkerball zählten beispielsweise die Treffer an meinen Beinen nicht.

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Wann und warum sind Sie zum Tischtennis gekommen?

Schmidt: Als ich zwölf Jahre alt war, machten wir als Familie Urlaub in Österreich. In dem kleinen Ort gab es für Kinder nur einen Spielplatz und eine Tischtennisplatte. Alle spielten, ich scheiterte glorreich. Ein Mann hatte die Szene beobachtet und kam am nächsten Tag mit Schaumstoff sowie Schnüren vorbei. „ Ich würde gerne probieren, Dir einen Schläger an den Arm zu binden“. Nach einer Viertelstunde konnte es losgehen. Ich war so begeistert, dass ich nach meinem Urlaub sofort einem Tischtennisverein beigetreten bin. Glücklicherweise traf ich dort auf Menschen, die mich mit offenen Händen annahmen.

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Sie wurden später mehrfacher Goldmedaillensieger bei den Paralympics in Seoul (1988), Barcelona (1992), Sidney (2000) und Athen (2004). Zwei Fragen dazu: 1. Was war in Atlanta (1996) los? 2. Beschreiben Sie uns mal das Gefühl, ein paralympisches Goldfinale zu bestreiten und gar zu gewinnen?

Schmidt: Atlanta war der Tiefpunkt meiner Karriere. Ich flog als Nummer Eins der Weltrangliste und großer Favorit dorthin – und war mental überfordert. Nach dem ersten verlorenen Satz, kam die Angst dazu. Und leider hatte ich kein Repertoire, diese zu überwinden. Ich überlebte die Vorrunde nicht. Strategien, um mit Versagensangst umzugehen, habe ich mir dann in den folgenden zwei Jahren mit den richtigen Menschen angeeignet. Nie wieder habe ich danach eine derartige Schlappe erlebt. Die zweite Antwort fällt mir leichter. Dafür zitiere ich mich selbst aus meinem Buch: „Lieber Arm ab als arm dran“. Der Hallensprecher kündigte das Endspiel der Startklasse 6 an. Begleitet von Musik zogen wir – Brian, mein Gegner aus Dänemark und ich – hinter einem Offiziellen in die Halle ein. 12.000 Menschen applaudierten uns zu. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Anfangs des zweiten Satzes war das Spiel noch völlig offen. Ich witterte meine Chance und riskierte alles. Wieder konnte ich einen leichten Vorsprung rausarbeiten. Längst hörte ich den Applaus der Masse nur noch im Hintergrund. Meine Teamkollegen schrien sich die Lunge aus dem Hals. Und doch konnte ich in diesem Lärm die Stimme meines Trainers gut verstehen: „Überrasche ihn mal mit einem kurzen Überschnittaufschlag!“ Ich lebte in einem Tunnel. Vor mir der Tisch, mit Brian auf der anderen Seite. Hinter mir der Coach mit seinen ruhigen und klaren Anweisungen. Gegen Ende des Satzes holte Brian auf. Er kam immer näher heran. Vermutlich hat mein Team längst gezittert, ich möge diesen zweiten Satz nach Hause bringen. Im dritten könnte ich womöglich keine Chance mehr haben. Ich dachte nur an den kleinen Ball und feuerte mich an: „Spiel weiter, los, greif ihn an.“ Dann 20:19, Matchball. Der Beifall verebbte.

Ruhig lag der Ball auf meinem Schläger. „Spiel einen schnellen Aufschlag, viel Seitenschnitt, genau auf seinen Spielarm. Überrasche ihn!“, denke ich. Ich sehe den Punkt vor mir, dort muss der Ball hin. Brian reagiert gut. Nimmt die Rückhand und kontert den Ball. Ich weiß, dass ich nicht kontern darf, also schaffe ich den Schritt zurück, schneller Topspin in seine tiefe Rückhand. Er kann den Ball nur mit wenig Tempo zurückheben. Meine Chance. Ich ziehe den Ball voll durch, tiefe Vorhand. Kurz vor dem Boden ist er da: Abwehrball, aber viel zu kurz. Mit dem ganzen Körper werfe ich mich in den Schmetterball. Der Ball schießt an ihm vorbei und klatscht gegen die Bande. Ich reiße die Arme empor und im selben Augenblick umhüllt mich das Tosen von 12.000 jubelnden Zuschauern. Erst jetzt sehe ich sie wieder: Meine Teamkollegen, die fast heiser sind, meinen Coach, dessen Taktik so erfolgreich aufging und die vielen Zuschauer, die mich in ihr Herz geschlossen haben. Alle laufen sie auf mich zu. Ich ertrinke in ausgestreckten Händen. Blitzlichter blenden mich. Ein Augenblick größten Glücks.

SANITÄTSHAUS AKTUELL Magazin: Als Buchautor und Kabarettist thematisieren Sie auch die Inklusion sowie sehr offen und humorvoll Ihre eigenen Einschränkungen. Welches Feedback bekommen Sie dafür von Ihren Lesern und Zuschauern?

Schmidt: In der Regel ein sehr zustimmendes Feedback. Inklusion ist für mich die Kunst des Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen. Am schwierigsten ist das Thema in der Schule. Das liegt aber weniger an meinem Verständnis von Inklusion als vielmehr an der Spannung, Inklusion in einem auf Separation angelegten System zu verwirklichen. Teilhaben und Sitzenbleiben passen einfach nicht zusammen.

Aktuellen Tourdaten und viele weiterführende Informationen über Rainer Schmidt erhalten Sie auf seiner Website: www.schmidt-rainer.com

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